Traces, Glimmers, Residues and Specks of Things

Conny Karlsson Lundgren

Performance, Der jugendliche Läufer mit Tim Habe, (c) Conny Karlsson Lundgren

Conny Karlsson Lundgren ist fasziniert von den ephemeren, scheinbar vergänglichen Spuren und Momenten, die sich zu einem größeren Kontext zusammenfügen. Seine Arbeiten befassen sich mit der Übertragung radikaler, alternativer queerer und feministischer Realitäten.

Ausgangspunkt für das Ausstellungsprojekt ist die Begegnung des Künstlers mit einem Kunstsammler. Durch ihren Dialog und das Nachzeichnen intimer Erinnerungen legt die Performance The Teenage Runner offen, wie ein Kunstwerk in seine Kunstsammlung integriert wurde. Die neue deutschsprachige Version, Der jugendliche Läufer, ist speziell für die Neue Galerie entstanden und wird im Laufe der Ausstellung mehrfach performt.

Der Titel der Ausstellung in der Neuen Galerie geht auf den kubanisch-amerikanischen Queer-Theoretiker José Esteban Muñoz und seinen Essay Ephemera as Evidence (1996) zurück, in dem er sich mit der Bedeutung des Provisorischen und Flüchtigen für die alternative Geschichtsschreibung marginalisierter Gruppen beschäftigt, etwa der LGBTQI+ Community oder anderer Minderheiten, Gruppen, die in offiziellen Archiven oftmals nicht dokumentiert oder definiert werden. Das Flüchtige wird dabei zu einer Art Beweis dafür, was geschehen ist, doch nicht zum Gegenstand des Geschehens selbst. Es steht für Zwischenräume, Erinnerungen, Hinweise, Relikte, und wenn man diesen „Spuren, Schimmern, Rückständen, und Flecken von Dingen“ nachspürt, entstehen neue Narrative.

In seiner künstlerischen Praxis befasst sich Karlsson Lundgren mithilfe filmischer, textlicher, bildlicher und dokumentarischer Mittel mit einer assoziativen Geschichtsschreibung, die die Grenzen zwischen gesellschaftlicher, politischer und persönlicher Identität auslotet.

Der Künstler formuliert für die Neue Galerie eine weniger politische, aber dafür sehr persönliche und intime Ausstellung, die neuere und ältere Werke kombiniert und in einen größeren Kontext stellt. Was die in der Ausstellung versammelten Arbeiten verbindet ist, dass sie privaten und intimen Erinnerungsbildern, Identitätsprozessen, sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen nachspüren, während die Choreografie an körperlichen Erfahrungen entlangführt. Sie berührt Erzählungen wie Adoleszenz, sensible Pflanzen, frühe langsame Disco Melodien und Cruising in japanischen Tempelgärten.

Seine Annäherung an unscharfe Erinnerungen, an Intimität, Sehnsucht und Verlangen, basierend auf eigenen ebenso wie fremden Erfahrungen, kann als eine Art Retrospektive über die Adoleszenz, aber auch über sein eigenes künstlerisches Oeuvre gelesen werden. Wie die Bühnenbilder verschiedener Akte in einem Theaterstück, schaffen die fragmentierten Erinnerungen, die ephemeren, scheinbar temporären Spuren und Momente einen sicheren Raum. Diese fügen sich zu einer Übergangsphase ins Erwachsensein zusammen, einer Phase des Zögerns und der Suche, mit allen Identitätsfindungsprozessen, die damit einhergehen. Die einzelnen Begriffe aus dem Titel der Ausstellung, „Spuren, Schimmer, Rückstände, Flecken von Dingen“, können auch als Zugangspunkte und alternative Titel für die vier ausgestellten Werke angesehen werden.

I Need Somebody To Love Tonight / Jag behöver någon att älska inatt

Ein kleines Neonschild pulsiert mit 105 BPM (Beats per Minute), also exakt im Rhythmus des langsamen Disco-Songs, dessen Titel gleichzeitig der englische Name dieses Werks ist. Die Originalversion aus dem Jahr 1979 stammt von Sylvester, der_die einst als „Verkörperung des Disco“ bezeichnet wurde und der sich gegen die binäre Geschlechterordnung auflehnte und in den Jahren der beginnenden AIDS-Epidemie zur Aktivist_in wurde. Der Song selbst stammt aus der Feder von Patrick Cowley, einem Pionier der elektronischen Dance Music und frühen AIDS-Opfer . Die Instrumentalversion taucht auch in einem der vielen Soundtracks für Schwulenpornos auf, die Cowley damals produzierte.
Die Buchstaben des Neonschildes basieren auf der Handschrift von Karlsson Lundgren. Drei Worte aus dem ins Schwedische übersetzten Titel des Songs wurden aus den Notiz- und Tagebüchern, die er während seiner Teenagerjahre führte, nachgezeichnet. Die initiierte Geste wirft Licht auf die Fragmentierung, der die Erinnerung im Laufe der Zeit unterworfen ist, und verweist über die Relikte eines demontierten Songs sowohl auf einen kurzen Moment der Queer History, als auch auf die Erzählung einer intimen und persönlichen Entwicklungsgeschichte geprägt von drängenden Begierden und Sehnsüchten.

The Teenage Runner | Der jugendliche Läufer

Im Anschluss an einen Vortrag, den Karlsson Lundgren an einem Kunstinstitut in Nordschweden hielt, meldete sich eine Person aus dem Publikum bei ihm: ein Sammler, der offenbar eine sorgfältig zusammengestellte Sammlung vorwiegend U.S.-amerikanischer Fotokunst besaß, die sich queeren Thematiken annähert – ein etwas überraschender Fund in dieser ländlichen Gegend. Der Dialog, der sich zwischen Sammler und Künstler entwickelte, mündete in die gemeinsame Durchsicht der einzelnen Werke der Sammlung.

The Teenage Runner entfaltet sich um ein spezifisches Fragment der Sammlung und zieht Parallelen zwischen unterschiedlichen Narrativen, die flüchtige Erinnerungen, erotische Empfindungen, wissenschaftliche Texte und Lyrik mit Philosophie verknüpfen. Sie alle führen zurück zu einer 1976 entstandenen Fotografie von Arthur Tress, Teenage Runners (Band-Aid Fantasy). Durch die Kombination unterschiedlicher Stimmen – der des Sammlers, des Fotografen, der Performer und anderer – wird die Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis rekonstruiert und wieder präsent gemacht sowie untersucht, wie ein Kunstwerk zum Teil einer Sammlung wird. Die Tätigkeit des Sammelns kann ein intimer Akt von Lust und Begehren sein, ein Identitätsfindungsprozess oder eine Methode, mit dem Bedürfnis umzugehen, irgendwohin zu gehören, kann aber vor allem auch dazu dienen, sich einen eigenen Raum zu schaffen.

 The Teenage Runner besteht aus fünf Teilen: The Collector, The Glade, The Stairs und Sensitiva bilden gemeinsam die Kulisse für die Performance The Teenage Runner, die im Rahmen der Ausstellung zur Eröffnung und an fünf weiteren Terminen zu sehen sein wird. Die neue deutschsprachige Version der Performance Der jugendliche Läufer mit dem in Wien lebenden Schauspieler Tim Habe ist speziell für die Neue Galerie entstanden.Die Dokumentation der Performance The Teenage Runner mit dem Schauspieler Ali Qasemi, die 2018 in der Einzelausstellung von Conny Karlsson Lundgren in der Sandviken Kunsthal aufgeführt wurde, wird in der Ausstellung gezeigt.

Dank an: Åke Lindberg, Lars Rune Larsson, Arthur Tress, Ali Qasemi, Johan Ågren und Daniel Palmgren. Deutsche Übersetzung: Astrid Tautscher und Tim Habe

Produziert mit der Unterstützung der Sandviken Konsthall und Neue Galerie Innsbruck

Gesture

Eine Geste, eine subtile Bewegung des Körpers, kann als Identitätsträger verstanden werden. In seinem Text Gesture, Ephemera and Queer Feeling verwendet José Esteban Muñoz den Begriff als Werkzeug zur Sichtbarmachung gesellschaftlicher Konventionen und der daraus entstehenden Festlegung dessen, wie bestimmte Körper sein und sich verhalten sollten. Muñoz erforscht seine physischen Erinnerungen, in denen der Körper sich durch eine unbewusste Verletzung etablierter Regeln offenbart, und zeigt auf, wie queere Körper und nichtnormative Bewegungen von der Gesellschaft bloßgestellt und beurteilt werden. Der Film Gesture ist ein Gemeinschaftsprojekt von Karlsson Lundgren und dem Choreographen und Tänzer Dinis Machado (SE/PT), in dem sie persönlichen Erfahrungen, Empfindungen und Körpererinnerungen nachspüren. Aus kurzen Sätzen wurde eine von Muñoz‘ Text inspirierte Partitur entwickelt, die in einer Reihe von Bewegungsphasen interpretiert und umgesetzt wird: Geh gerade. Die Struktur des Teppichs auf meinem Gesicht, auf meinem Arm spüren. Kommen. Öffne deinen Mund mit Verlangen und Unbehagen. Mit dem Rücken zur Wand stehen und es genießen. Weibliche Beine, überkreuzt, im Stehen. Auf Zehenspitzen. Auf etwas zeigen. Man zeigt auf dich. Kämpfe wie eine Königin. Die Luft spüren, wenn man tanzt, etc.

Gesture: Regisseur: Conny Karlsson Lundgren, Performer: Dinis Machado, Cinematographin: Maja Dennhag, Kameraassistenz: Majaq Julén, Tonaufnahmen: Felix Aneer, Tonbearbeitung: Jesper Norda. Produziert mit Unterstützung der Haninge Konsthall.

Residues (Kanazawa)

Residues (Kanazawa) greift Fragmente einer frühen Performance auf, die während Karlsson Lundgrens Studienzeit in Kanazawa durchgeführt wurde. Die historischen Schauplätze der japanischen Universitätsstadt mit ihren vielen Gärten und alten Schreinen wurden zum Schauplatz für eine Reihe von Interventionen (oder Überresten) im öffentlichen Raum durch den Künstler. Um die Jahrtausendwende wurden in Japan sexuelle und geschlechtsspezifische Minderheiten und sogar voreheliche erotische Begegnungen noch immer in Frage gestellt und junge Paare lebten oft bis zur Heirat mit ihren Eltern. Parks boten einen geheimen Ort, einen temporären Lustgarten für nächtliche Liebende, um ihren Sehnsüchten nachzukommen und schufen gleichzeitig einen „sicheren“ Raum für marginalisierte Gemeinschaften. Der Akt des Crusings mit seinem codierten Verhalten war ein wesentlicher Bestandteil der queeren Kultur, der sich aber Zeiten von Dating-Apps zu unterschiedlichen Formen gewandelt hat. Die Geste und die begleitenden Tagebucheinträge akzentuieren in der performativen Arbeit einen alternativen Zufluchtsort für Sehnsüchte, der sich organisch entwickelt hat – und der auch in der digitalen Intimitätskultur bestehen bleibt.

 

Ausstellungsbroschüre zum Herunterladen